Die Fortschrittsillusion

Davon ausgehend, dass Unterricht Illusionen enttarnt und vor pädagogischer Diagnostik nichts sicher zu sein scheint, können wir feststellen, dass viele Fantasien, Ideen oder Hypothesen (z. B. die von Erdscheibe und Himmelsgewölbe, des “Ich” und des “freien Willen” oder der bunten Farbenpracht in der Welt “da draußen”) Konstrukte des Gehirns sind, die sich kulturell bei der patriarchalen Meisterung des Lebens bewährt hatten.

Kultur setzt auf Nützlichkeit und nicht auf das bestmögliche Erkennen einer Objektivität. Damit stellt sich die erkenntnistheoretische Frage, ob wir Fortschritt im Unterricht (die Welt in der Klasse) überhaupt erkennen können. Wissensmehrung kann dazu führen, dass uns die Welt unzugänglicher, unplausibler, irrealer usw. erscheint. Der Widerstand gegen neue Weltbilder fällt um so stärker aus, je mehr die subjektive Weltsicht und die subjekte Selbstvorstellung betroffen ist, je stärker also unser Lebensstil von sich selbst in Frage gestellt wird.

Lebensstile ähneln dogmatischen Narzissten, die erst mühsam lernen müssen, andere Perspektiven einzunehmen, da wir nicht einsehen “können”, warum wir das eigentlich mit Bezug auf uns selbst und auf unseren Lebensstil tun sollten.

Zu den nützlichen Konstruktionen der Kultur gehört auch die Idee des Fortschritts, denn die Menschen möchten die menschliche Geschichte als Fortschrittsgeschichte schreiben (siehe “Evolution”). Doch für den Inhalt oder für seine Qualifizierung gibt es beim Fortschritt keinen verlässlichen Maßstab, an dem er zu messen wäre.

Homo sapiens sapiens möchte als höher entwickelt gelten als andere Säuger. Auch wenn die Theorie Darwins zumeist als Fortschrittstheorie angesehen wird, können wir biologische Arten nicht als höher oder niedriger entwickelt bezeichnen, sondern können bestenfalls einen Prozess der Komplexitätszunahme beschreiben, wenn wir unberücksichtigt lassen, dass das Mäusegenom nicht wesentlich weniger komplex ist als das menschliche und es auch Fälle regressiver Evolution gibt.

Wir entwickeln komplexe Motivationslagen mit persönlichen Zielen und Absichten, hinsichtlich derer wir Erfolg haben oder Misserfolg. Aber auch die Erfüllung dieser persönlichen Zielvorstellungen ist kein Maßstab, der zur Definition von Fortschritt taugt, denn Zufriedenheit (Glück u. ä.) sind situativ und lassen sich nicht konservieren.

Wir brauchen die Fortschrittsidee, um im System zu bleiben, um eben doch nicht wirklich Neuland zu betreten.